Mitteilung Nr. 4 von Sensei Roland Habersetzer an das Institut Tengu :

 

Der "Tunnelblick"

 

"Auch wenn Ihre Gegner Sie von allen vier Richtungen angreifen, versuchen Sie ihnen in einer einzigen Richtung nachzujagen (...). So dass Ihr Blick sie alle umfasst.

(Miyamoto Musashi: "Buch der fünf Ringe" -- Buch des Wassers --)

Wären Sie auch mit der leistungsfähigsten Waffe der Welt ausgestattet, sie wird Ihnen nichts nutzen, wenn Sie im Moment, in dem sie genutzt werden muss, Bedenken haben, die ihren Einsatz verspätet, oder die Sie unter Stresseinfluss jede Kontrolle über sie verlieren lässt ("der Geist ist die ultimative Waffe"...). Das ist die Falle und Gefahr, mit der sich ein jeder Übende einer Kampfkunst eines Tages konfrontiert finden kann. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass wir unter letzterer die "bewaffnete Praxis" verstehen. Diese Waffe kann ganz einfach ein nach bestimmten Formen der Effizienz (zum Beispiel den Schlagtechniken der "leeren Hand", vom Typ "Kara-Te" ohne Exklusivität) trainierter Körper sein, manchmal unter Zuhilfenahme einer Waffe im gewöhnlichen Sinne. Der Großteil der Übenden einer Kampfkunst wird niemals, und dies ist besser so, den Moment der Wahrheit, die Auseinandersetzung ums Überleben, kennen lernen. Letztere behalten die ganze Zeit ihre Praxis bei, und bleiben manchmal darüber hinaus im vollen Vertrauen ihrer Fähigkeiten, auf eine Aggression antworten zu können. Ihr ganzes Leben, ohne es zu wissen, die Gefahr streifend, sich eines Tages gehen zu lassen, um eine tödliche Herausforderung anzunehmen.

Denn das Szenario eines Kampfes "ums Leben", wo weder Regeln, Konventionen noch ein letzter Rückzug existieren, jenseits jeglicher dem Ego schmeichelnden Interpretationen, hat nichts mit dem Typ Konfrontation zu tun, den man sich in einem Dojo (geschützter Ort) oder auch im Rahmen eines sportlichen (wenn auch gewaltsamen) Wettstreits vorstellen kann. All jene, die sich schon einmal in einer solchen Situation befanden, werden es bestätigen: Es ist etwas völlig anderes... In meinen Deutungen gehe ich immer von folgender Annahme aus: letztlich stellt Ihnen ein spezifisches Training angesichts einer gewaltsamen und unumrissenen Aggression, die versucht, Sie (berufs-)unfähig zu machen, sogar Sie zu zerstören, eine reelle Fähigkeit zu einer "bewaffneten" Antwort zur Verfügung und die Sie bereit sein werden (den Regeln einer Ethik folgend) zu geben, wenn Sie sich aus einem Grund, der nur bei Ihnen liegt, entschieden haben, sie in die Tat umzusetzen.

Vom "Stadium Gelb" führt Sie der Situationsverlauf ins "Orange" und Ihre bis dahin potentielle, ruhende "Waffe" ist aktiviert. Sie sehen sich einer aggressiven Gewalt gegenüber, die sich jeden Moment konkretisieren könnte, die sich aber gleichermaßen auch auflösen könnte, wenn Sie bloß nicht, unbeabsichtigt, unter dem Stresseinfluss, ihr selbst den entscheidenden Stoß geben (verbale Eskalation oder eine physisch provokante Haltung wie zum Beispiel wenn Sie eine "hohe" Bereitschaftsstellung, wie in einem klassischen Dojo gelernt, einnehmen). Seien Sie also entschieden, aufmerksam, bereit, aber noch nicht physisch engagiert. Alles kann kommen. Außer dem gefährlichen Gefühl der Sicherheit, das Sie blind machen kann, indem Sie ihre wahren Fähigkeiten zu einer schnellen Antwort überschätzen (technisch als auch psychisch: die Praxis des Dialogs, manchmal auch "verbales Judo" genannt, dessen Ziel es ist, auf sanfte Weise eine auf der Schneide stehende Situation zu entschärfen, ist nicht immer von Erfolg gekrönt und dies könnte gleichermaßen ein selbstmörderisches Verhalten sein, das sich mit der Versuchung einer verfrühten Entspannung der eigenen Wachsamkeit umgibt) oder die Schwere der Lage unterschätzen. Eine andere Gefahr besteht darin, sich vom "Tunnelblick" erfassen zu lassen.

"Sich erfassen lassen" entspricht dem Situationstyp, den man gut aus dem klassischen Kumite kennt, in dem man einem einzigen Gegner (und weiter: einem Partner im Dojo) gegenübersteht, und welches die Aufmerksamkeit hinter dem fixierten Blick in eine einzige Richtung, in einer fast hypnotischen Faszination, während man sich im Zustand des Stress befindet und das Niveau der Bedrohung erhöht ist (eine entscheidende Situation, wo das Leben auf dem Spiel steht), in eine Falle lockt. Die natürliche, organische Reaktion, der emotionelle Trieb und der Adrenalinspiegel, der jeglicher Kontrolle entgleitet (ein Effekt, den man nicht wirklich innerhalb eines Trainings im Dojo reproduzieren kann, da man im vorhinein weiss, dass es Grenzen gibt), lassen uns also leicht das Stadium "Orange" überspringen. Man gelangt ohne Zwischenstufe vor jedem körperlichen Kontakt von "Gelb" nach "Rot". Und es ist schwierig, im Nachhinein zurückzukehren. Die reale Konfrontation ist zu brutal. Keine Zeit um "Atmen zu holen"... Die Erfahrung hat weitgehend gezeigt, dass in der Praxis die Aufmerksamkeit unbeweglich, vollkommen auf die Gefahr gerichtet ist, und wenn nur irgendwie diese sich präzisiert (Auftauchen einer Waffe), so bleibt der Blick auf die einzige Ursache des Problems eingeschränkt. Man befindet sich somit im "Tunnelblick"... ein wohl klares Bild. Aber was würde passieren im Falle von mehreren Bedrohungen, wenn eine zweite dann eine dritte Gefahr sich zu der, die man anfangs im "Griff" hatte, sofort oder nacheinander, von nah oder fern, von unterschiedlichem Gewicht (technisch, physisch, Art der Waffe,...) hinzufüge? Wie soll man eine Bedrohung in den Griff bekommen, die gleichzeitig mehrere Formen annehmen kann bzw. sich einfach nur entwickelt? Der "Tunnelblick" verhindert, bei Zeiten das zu erspähen, was sich nicht direkt im Blickfeld befindet, oder aber die Fähigkeit zu unterscheiden verschwindet in der auftretenden Verwirrung ganz und gar, der Blick und die Empfindungen sind plötzlich überfordert. Die visuelle und sensorische Kontrolle der Situation entgleitet, der Körper bleibt erstarrt. Danach kann man nicht mehr von einem vernünftigen Handeln (immer diese "rechte Gesinnung"...) noch von einer Bedrohung oder den echten Möglichkeiten zu antworten reden, alles wird verwegener, also noch gefährlicher.

Gleichwohl existieren in der traditionellen Unterrichtung der Kampfkünste präzise Hinweise über dieses entscheidende Thema. So zum Beispiel "der Blick des weit entfernten Berges" ("Enzan no Metsuke"), der nicht am Gegner heftet sondern ihn umhüllt, durchdringt, ihn kontrolliert vom Kopf bis zu den Füßen. Man findet das gleiche Konzept in den Ausdrücken "Koyo no Metsuke" oder "Tozan no Metsuke" wieder, um diese Idee, im selben Moment die Gesamtheit als auch das Detail mit gleicher Schärfe zu sehen, auszudrücken. Der Blick darf sich nicht auf das Sichtbare, die Erscheinung beschränken, er muss bis zum Horizont des Sichtbaren gehen und darüber hinaus zum Herzen der Nicht-Form (dies ist idealerweise "ein Sehen mit dem inneren Auge, das den Geist des Gegners durchdringt"). Der Geist heftet nicht an einem präzisen Punkt des Gegners, er nimmt letzteren in seiner Gesamtheit und seinen Absichten wahr (Idee, die der gefeierte Takuan, Zen- und Schwertmeister, in Erinnerung rief, wenn er mahnte, niemals mit den Augen die Klinge des Gegners fixieren). Niemals in die Augen sehen, den Blick in Höhe des Kehlkopfes lassen. Er soll keineswegs festgenagelt sein, mit dem Geist die genaue Art der Bedrohung zu erahnen. Man muss lernen zu sehen ohne anzusehen.

Vergessen Sie nicht, denn "die Augen sind bekanntlich ein Spiegel der Seele", dass der Gegner ebenfalls ihre Absichten und Emotionen in den ihren lesen kann. Ich weiß, dass es auch diejenigen gibt, die es verstehen, in ihrem Blick zu ihrem Willen verschiedene Emotionen auszudrücken... Sicherlich existieren diese zweifelhaften Komödianten, aber ich bezweifle sehr, dass in diesem entscheidenden, kurzen Moment der Wahrheit jemand, wer immer es auch sei, die Zeit, die geistige Präsenz, die emotionelle Kontrolle hat, um sich so effektiv zu verstellen. In der Praxis, in der "echten" Situation, kann der Blick nicht täuschen (Angst, Unsicherheit, Gewalt,...).
Dem entsprechend gibt es traditionelle Kata-Unterweisung, die daran erinnert, dass nach Einnahme der Anfangsposition ("Yoi") der Geist nach allen "vier Himmelsrichtungen" offen sein muss: Blick gerade aus, natürlich (nach vorne zur Mittelachse der Kata), aber sich gleichzeitig zu jeder Seite, auch ein bisschen nach hinten, regen und auf der Hut sein... Wieviele Übende, selbst graduierte, denken von der Position "Yoi" an andere Dinge, wie (bestenfalls) an den ersten Angreifer, der aus einer festgelegten Richtung auftauchen wird? Eine Falle für den reellen Kampf. Ein Training entgegengesetzt zu einer Vorbereitung auf die totale Konfrontation. Erkennen Sie, warum Kata-Demonstrationen (und -Wettkämpfe!) vor Publikum, der Geist in seinem "Yoi" und Ego eingefroren, technische Fertigkeiten zerbrechlich machen, schon nicht so offensichtlich, wenn man glaubt, mit vollkommen guter Absicht, dass man gerade eine brillante Vorstellung abgibt? Sie nähren die "Chronik einer sich angekündigten Katastrophe", die häufig von denjenigen geschrieben wird, die sportliche Ästhetik mit martialischem Verhalten verwechseln.

Auf einem Gemälde, das Miyamoto Musashi (1584-1645) aufrecht mit natürlicher Aufmerksamkeit und seinen zwei Schwertern zeigt, kann man ein Verhalten sehen, welches unter dem Namen "happo biraki" (=offen in acht Richtungen) bekannt ist. Eine neutrale Position, ohne Allüren, eine Haltung von "geringer Höhe", in Wahrheit aber bereit allem zu begegnen, ohne eine Lücke zum Angriff zu bieten. Derselbe Musashi spricht in seinem "Buch der fünf Ringe" (" Gorin no Sho") von der Vorstellung "Kanken": er unterscheidet beim Schwertkampf in der Tat "Kan" (hindurch- oder hineinschauen), den Blick, den man mit einer durchdringenden Kraft tragen muss, der auf den Geist des Gegners zielt, von "Ken" (sehen), einem oberflächlichen Blick, der einfachen Beobachtung.

Der Blick fürs Ganze lässt die Freiheit, im Augenblick zu reagieren und sich an die ändernde Realität zu heften. Das ist es, was man auch auch einen "peripheren Blick" (frz.: vision périphérique) nennt. Während im Gegensatz dazu der "Tunnelblick" die Technik wie den Geist gefangen nimmt.

Man muss, auch im Dojo, zu einer wahren, tiefgehenden Arbeit zurückkehren, in der man sich die möglichen Einsätze für eine authentische Ausübung einer Kampfkunst mit dem Willen zur Realitätsnähe ohne Gefälligkeiten zu sich selbst bewußt macht.

 

Roland HABERSETZER, Directeur Institut Tengu
 

(DIESER ARTIKEL (Copyright) IST TEIL EINER ÜBERLEGUNG DIE EIN THEMA EINER VERÖFFENTLICHUNG SEIN WIRD.

Übersetzt von Erhard Weidenauer